Nein-Sagen gilt vielen als selbstsüchtig. Warum es so wichtig ist, öfter an sich zu denken. Hirte statt Herdenmitglied des eigenen Lebens zu sein und nicht alles hinzunehmen. Eine Anleitung zum Unbequemen. Mit vielen praktischen Tipps.
"Kannst Du die Aufgabe für die Firma Mustermann übernehmen?", "Organisieren Sie doch bitte den nächsten Conference Call, Frau Lehmann?“ – rund 20.000 Entscheidungen treffen wir täglich. Die meisten davon, wie Aufstehen, Waschen oder Essen, routiniert blitzschnell. Andere beschäftigen uns mehr. Sie drehen sich auch um die Fragen:
- Lebe ich oder werde ich gelebt?
- Bin ich Regisseur meines Lebens oder nur ein Requisit mit pochendem Herzen?
Manche geben bei den Antworten die Schuld den anderen. Oder den Umständen. Gerade in komplexen Zeiten wie diesen – mit globalen Märkten, aber auch globalen Ängsten - Klima, Migration, Digitalisierung. Mit einer auf der einen Seite immer noch sehr reichen Gesellschaft - noch nie ging es uns so gut wie heute - und einer zunehmend erschöpften Gesellschaft. Sie macht viele zu abnickenden Ja-Sagern oder schweigenden Zustimmern im Sinne von: Ich komme nicht mehr mit. Ich ziehe mich ins Private zurück. Außerdem muss ich noch meinen Baukredit abbezahlen ... sollen doch lieber die anderen ...
Ein Nein wertet die Sachen auf, zu denen ich Ja sage
Gleichzeitig kriegen die, die ausgetrampelte Pfade verlassen, persönliche Freiheit wagen, alte Denkmuster über Bord werfen, wenig Beifall. Also doch lieber in die gut gepufferte Mitte der Ja-Sager? Hier fühlt man sich sicher. Hier ist alles so vertraut. Ein selbstbewusstes Nein hat hier nun wirklich nichts verloren.
- Dabei ist das Wort „Nein“ weder negativ noch selbstsüchtig.
- Es gibt mir die Macht über meine eigene Zeit zurück.
- Es wertet die Sachen auf, zu denen ich Ja sage.
Warum es uns so schwerfällt, Nein zu sagen
Das erste Nein hörten wir von unseren Eltern, wenn wir als Kind etwas taten, was lebensgefährlich war. Wenn wir uns neben der Spur benahmen. Oder unsere Eltern ihre eigenen Idealvorstellungen auf uns übertrugen, die wir nicht erfüllen konnten oder wollten. Häufig reagierten Mama und Papa dann mit Kritik. Mit Ablehnung. Mit Tadel. Manchmal auch mit körperlichen Bestrafungen.
Wir lernten in der Kindheit: Nein-Sagen bringt Stress, Konflikte, Disharmonien. Dann war es doch sehr viel leichter, die brave Prinzessin oder der liebe Sonnenschein zu sein, kurz alle Erwartungen zu erfüllen.
Everybody's Darling is everybody's Depp
Die Erfahrungen der ersten sechs Lebensjahre sind in uns wie Autobahnen angelegt – und wirken bis heute nach, sofern man nicht an sich arbeitet. Mehr noch, sie erschweren das Nein-Sagen. Als Erwachsener kann man nicht mehr zu allem Ja und Amen sagen, sondern muss sich abgrenzen. Die Eltern, die uns früher beschützt haben, damit wir nicht ausgenutzt werden, sind nämlich nicht mehr da.
Die Qual der Wahl
Ein weiterer Grund, warum einem das Nein-Sagen oftmals wie schwere (innere) Knochenarbeit vorkommt, sind die vielen Wahlmöglichkeiten unserer Zeit. Das reicht von der Anschaffung eines PCs über den Abschluss einer Versicherung und geht bis zur Strategie, wie ich mein Unternehmen positionieren möchte. Optionsfreiheit bedeutet auch immer Entscheidungsfreiheit. Sie verlangt ein großes Maß an Mut und Verantwortung – auch einmal Nein zu sagen, sich zu fokussieren und von Überflüssigem zu trennen.
Anleitung zum Unbequemen
"Die Fähigkeit, Nein zu sagen, zeigt, dass du in deinem Leben am Steuer sitzt", sagt die Marketing-Professorin Vanessa M. Patrick von der Universität Houston. Es verleiht einem ein Gefühl von innerer Stärke. Ein Ja ist zwar sehr viel schneller gesagt, doch dafür sind die Folgewirkungen sehr viel langwieriger. Oder wie es der Journalist Peter Lau ausdrückt: "Ja ist eine Straße. Nein ist ein Horizont."
Fragen Sie sich, mit welcher Entscheidung Sie langfristig besser leben können
Schließlich wollen wir gemocht werden. Sehnen uns nach Harmonie. Und haben als soziales Wesen, was der Mensch nun einmal ist, genauso das Verlangen, den Erwartungen anderer gerecht zu werden. So stecken wir in dem Dilemma zwischen Gefälligkeitsfalle und eigenen Prioritäten.
Wenn ich mache, was andere von mir wollen, habe ich mehr Stress, komme ich nicht zu meinen Aufgaben. Wenn ich mache, was ich will und Nein sage, ist der andere vielleicht enttäuscht oder ich gelte in seinen Augen als egoistisch. Die große Gefahr: Manipuliert zu werden, indem man uns für die Probleme der anderen verantwortlich macht.
Die Kunst, mit Power Nein zu sagen
Um aus dem Hamsterrad aus Ja und Überforderung auszubrechen, muss ich mir erst einmal klar darüber werden, dass ich mit dem Nein-Sagen vielleicht ein Problem habe. Außerdem sollte ich mir vorher überlegen, welche Konsequenzen ein Nicht-mehr-mitspielen hat und bereit sein, diese auch auszuhalten.
Insofern ist Nein-Sagen auch die Herausforderung von:
- Der Notwendigkeit, Klarheit über sich selbst zu erlangen: Was will ich und was will ich nicht?
- Der Verantwortung für das eigene Entscheiden und Tun.
- Der Kunst, den richtigen Ton beim Nein zu treffen – ohne zu verletzen.
- Dem Einsatz von Körpersprache, denn Stimme und Körperhaltung unterstützen ein Nein.
So nicht mehr – Ich-Botschaften
Sagen Sie konsequent „Nein“, wenn dies Ihr Ziel ist – am besten als Ich-Botschaft formuliert: „Ich kann Ihnen da leider nicht weiterhelfen!“
Nein-Sagen kann man üben. Ein gutes Training sind „ungefährliche“ Alltagssituationen, etwa wenn der Gemüsehändler danach fragt, ob es nicht noch ein bisschen mehr sein darf. Nein! Oder an der Supermarktkasse jemand vor ihnen bezahlen möchte, nur weil er einen Artikel weniger in seinem Einkaufskorb liegen hat. Nein!
Drei Nein-Entlastungsfragen
Wenn Sie unsicher sind oder dazu neigen, vorschnell Ja und Amen zu sagen und dabei immer wieder eigene Grenzen übergehen, nehmen Sie sich eine Bedenkzeit. Treffen Sie systematisch eine Entscheidung, aber treffen Sie eine. Helfen können diese drei Nein-Entlastungsfragen:
- Warum soll gerade ich diese Aufgabe erledigen?
- Warum muss die Aufgabe unbedingt jetzt und zu keinem anderen Zeitpunkt erledigt werden?
- Warum kann die Aufgabe nur so und nicht anders erledigt werden?
Von soft bis dramatisch – Ihr Nein-Spickzettel
Auf ein Nein kommt man manchmal erst 24 Stunden später. Ach, hätte ich doch ...! Damit diese fruchtlosen Grübeleien erst gar nicht eintreten, denn schlauer ist man meistens immer hinterher, nutzen Sie für Ihr nächstes „no way“ unseren Nein-Spickzettel. Er liefert Ihnen verschiedene Ideen und Beispiele, wie Sie schneller Nein-Sagen – ohne sich schuldig zu fühlen. Der Spickzettel ist selbsterklärend, intuitiv anwendbar und individualisierbar.
Nein-Sagen, indem Sie argumentieren.
Erläutern Sie Ihren Prioritäten- und Zeitplan.
Beispiel: „Ich muss bis morgen noch Projekt X und Y fertigstellen. Wenn ich diese Aufgabe jetzt noch zusätzlich übernehmen soll, wird sich der Abgabetermin von Projekt X nach hinten verschieben.“
Nein-Sagen, indem Sie spiegeln.
Lehnen Sie ab und halten sie ihrem Gegenüber einen imaginären Spiegel vor.
Beispiel: „Ich kann Dir da wirklich nicht helfen. Der Chef hat Dir die Aufgabe und Verantwortung übertragen. Er hat sich mit Sicherheit etwas dabei gedacht.“
Nein-Sagen, indem Sie Mitleid erregen.
Klagen Sie über Ihre Arbeitsbelastung, Stress, Zeitnot etc.
Beispiel: „Herr Mustermann, sehen Sie denn nicht, wie wir hier schon Oberkante Unterlippe mit Arbeit eingedeckt sind. Wir können uns doch nicht zerreißen!“
Nein-Sagen, indem Sie das Problem verlagern.
Verweisen Sie auf andere Kollegen, Abteilungen etc.
Beispiel: „Ich habe dafür gerade keine Zeit, aber fragen Sie doch mal Herrn Lehmann. Der kennt sich bei dem Thema richtig gut aus.“
Nein-Sagen, indem Sie auf Autoritäten verweisen.
Schicken Sie den Antragsteller zum Chef. Oder suchen Sie sich als Selbstständige/r eine Bürokraft, die Ihnen den Rücken freihält. Als Unbeteiligte/r kann man viel leichter Nein-Sagen.
Beispiel: „Lena, das solltest Du bitte mit der Abteilungsleiterin abklären.“
Nein-Sagen, indem Sie Alternativen anbieten.
Bieten Sie schnell zwei spätere Alternativtermine an.
Beispiel: „Diese Woche geht es bei mir nicht. Aber in zwei Wochen hätte ich Zeit. Wie passt es Ihnen Donnerstag oder Freitag in zwei Wochen?
Nein-Sagen, indem Sie konfrontieren.
Sagen Sie einfach, dass Sie jetzt keine Zeit haben.
Beispiel: „Sorry, jetzt nicht!“
Nein-Sagen, indem Sie konsequent bleiben.
Antworten Sie kurz und knapp und machen Sie konsequent mit Ihrer Arbeit weiter.
Beispiel: „Ich weiß, das wird Sie enttäuschen, aber die Wochenenden gehören meiner Familie.“
Telefon-Beispiel: „Es tut mir leid, aber ich muss jetzt auflegen! Auf Wiederhören.“
Fazit: Hinter jedem Ja stehen viele Neins
Ein Nein ist alles andere als ein trennendes, zurückweisendes oder gar verletzendes Wort – sondern eines der wichtigsten, besten, sinnvollsten Wörter überhaupt. Sie können nicht alles machen. Mit einem Nein ohne Reue gewinnen Sie:
- Zeit und Muße für das Wesentliche, beruflich wie privat
- Bessere Arbeitsergebnisse und mehr Spaß im Job (und im Leben)
- Mehr Selbstbewusstsein und Profil (Ihre Grenzen werden deutlicher)
Last but not least: Manchmal kann es auch schon helfen, den Fokus auf nur eine wichtige Sache pro Tag zu legen und erst dieses To-Do zu erledigen. Ob Sie dann „Nein, jetzt nicht“ sagen oder „Später vielleicht“ bleibt egal. Hauptsache Sie haben Ihren „Matchballs des Tages“ immer fest Blick.
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