Gute Ideen fallen plötzlich vom Himmel, glauben viele. Dass man sie systematisch entwickeln kann, wissen allerdings nur wenige. Wir stellen Ihnen die Innovationsmethode Design Thinking vor. Sie hilft, kreative Lösungen für komplexe Probleme zu finden.
Entweder man ist kreativ oder man ist es eben nicht – so lautet ein weit verbreiteter Irrtum. Doch die Innovationen von Start-ups und Unternehmen, die mit ihren disruptiven Technologien ganze Branchen umkrempelten, zeichnen ein anderes Bild. Revolutionäre Ideen, die durch die Decke gehen, sind das Resultat einer systematischen Suche nach neuen Problemlösungen.
Wie kommt man auf solche Ideen, wie Digitalkamera, iPad, Smart Watch, Clouds oder Online-Banking? Sicher ist – viele Wege führen nach Rom. Seit gut 15 Jahren schiebt sich allerdings ein Hype oder kreatives Arbeitsprinzip oder einfach nur eine kreative Sichtweise besonders in den Vordergrund, das Design Thinking.
Denken wie ein Designer
Hinter dem Innovationansatz steht die eine einfache, zugleich aber auch sehr herausfordernde Formel:
Denken mit der Haltung eines Designers.
Entwickeln mit den Augen eines Nutzers.
So verbindet die vom US-Amerikaner David Kelley entwickelte Methode einen starken Nutzerfokus mit interdisziplinärer Teamarbeit und einem strukturierten, aber spielerischen Prozess. Über diese Elemente lassen sich komplexe Themenfelder in konkrete Lösungen überführen – von der Produktentwicklung bis zur Dienstleistung, vom Vertriebskonzept bis zur Preisstrategie, von der Berufswahl bis zur Geschäftsmodellentwicklung von Start-ups.
Kunst des Scheiterns lernen
Statt die eigenen Produkte und Leistungen (Was haben wir zu bieten?) werden beim Design Thinking die Bedürfnisse der Menschen und Kunden (Was brauchen sie?) an die erste Stelle gesetzt. Es geht darum, etwas anders zu machen. Neu und ungewöhnlich zu denken – out-of-the-box. Auszuprobieren. Grenzen zu verlassen und auszuloten. Erst recht, die Kunst des Scheiterns wieder zu erlernen. Oder um es mit den Worten des Glühbirnen-Erfinders Thomas Alva Edison zu sagen: „Ich bin nicht gescheitert, ich habe nur 10.000 Wege entdeckt, die nicht funktioniert haben.“
Design Thinking wurde von David Kelley, Gründer der bekannten Design-Agentur IDEO im Silicon Valley, entwickelt und maßgeblich an der amerikanischen d.school der Stanford University, Kalifornien, geprägt. Seit 2007 wird Design Thinking auch erfolgreich am Hasso-Plattner-Instituts in Potsdam (HPI School of Design Thinking) gelehrt, angewendet und weiterentwickelt. Die renommierte Schule wurde nach dem SAP-Gründer und Stifter Hasso-Plattner benannt.
Erfolgsbeispiel Shimano
2004 verzeichnete Shimano, ein führender japanischer Hersteller von Fahrradkomponenten, in den USA abflachende Wachstumsraten bei seinen traditionellen Rennrad- und Mountainbike-Produkten.
Setzte das Unternehmen bislang nur auf neue Technologien, wollte es etwas anders machen – ein Fahrrad entwickeln, dass jeder Amerikaner gerne fährt. Mit Hilfe von Design Thinking erkannte der Hightech-Hersteller, dass sich viele Amerikaner gern an ihre Kindheit mit dem Fahrrad erinnerten, inzwischen aber nichts mehr vom Radfahren wissen wollten. Das lag:
- am bescheidenen Einkaufserlebnis,
- den athletischen Verkaufsmitarbeitern, die in ihren Lycra-Outfits auf stark gewichtige Kunden eine einschüchternde Wirkung ausübten,
- der komplizierten Radtechnik,
- Problemen bei der Fahrrad-Wartung,
- überhöhten Preisen für Fahrräder sowie dem entsprechenden Zubehör in den Bike-Shops.
Vereinfacht gesagt: Die Kunden wollten nur Fahrrad fahren, ohne Druck, ohne Wettbewerb, ohne Stress, ohne besondere Fahrradkleidung – einfach nur fahren und genießen.
Dieses Produkt kam dabei heraus. Die sogenannten Cruiser. Geschwungener Rahmen. Hoher Lenker. Tiefer Sitz. Unsportliches Design – eben ein Fahrrad, um einfach mal Fahrrad zu fahren. Ein Ergebnis der Methode Design Thinking!
So funktioniert die Design-Thinking-Methode
Der Stuhl aller Stühle
Angenommen zwei junge Gründer tun sich zusammen. Sie wollen den besten Stuhl dieser Welt entwickeln. Einen der Designer- und Innovationspreise abräumt. Sich verkauft wie geschnitten Brot. Kurz, eine Sitzgelegenheit auf Erden über die alle sprechen – den Stuhl aller Stühle.
- Wie könnte das das Gründerduo hier von Design Thinking profitieren?
Erkenne das Bedürfnis
Vor der Produktidee steht eine Art Feldforschung. Jedoch nicht mit der Sichtweise:
- Ach, wir wissen doch schon längst, was unsere Kunden wollen.
- Der Vertreib erzählt uns jeden Tag davon.
- Außerdem die letzte Kundenbefragung ergab, dass ...?
Bei Design Thinking geht es weniger um Annahmen. Schon gar nicht vom Schreibtisch aus. Vielmehr haben das Verstehen und stille Beobachten der Nutzer in der Praxis in dieser Phase einen wichtigen Stellenwert.
Bezogen auf das Stuhlbeispiel bedeutet das: Wie nutzen Leute Stühle? Welche Zielgruppe nehme ich in den Fokus? Studenten? Familien? Büromitarbeiter? Wichtig sind auch die Lebensgewohnheiten? Studenten machen aus alt neu, nehmen gerne mal einen Stuhl vom Sperrmüll mit? Während Eltern eher einen Stuhl kaufen würden, der zum Wohnungsinterieur passt, sicher steht und leicht zu reinigen ist.
Realitätserfahrung: Sprechen Sie mit der Zielgruppe
Dazu geht unser Gründerduo in Universitäten, Studentenklubs oder recherchiert in WGs, wie dort die Sitzgelegenheiten genutzt werden. Bei der Zielgruppen Familien wäre der Besuch von Mc-Donalds- oder IKEA-Restaurants sinnvoll.
Ist das stille Beobachten nicht möglich, kann man auch Interviews zum Themenfokus führen oder Personas entwickeln. Also das fiktive Bild eines typischen Kunden, der vieles von dem mitbringt, was alle Kunden seiner Gruppe auszeichnet: Interessen, Ängste, Ansprüche, Erfahrungen. Das Entscheidende: Die Persona ist eine Figur mit ihrer eigenen Geschichte. Sie trägt einen Namen, hat ein bestimmtes Aussehen und ihren ganz eigenen Charakter.
Wie schaffen wir es, dass ...
Nach den Ergebnissen aus den vielen Warum-Fragen in der Phase der Feldforschung (um die wahren Bedürfnisse und Emotionen herauszufinden) ist die zentrale Herausforderung zu definieren. Beispielsweise müssen Stühle für Studenten mobil (oder falt- und klappbar), leicht und schick sein. Die viel größere Herausforderung wäre aber der günstige Preis. Frage demnach: Wie schaffen wir es, einen Stuhl für Studenten zu gestalten, der mobil, schön, vor allem aber preiswert ist?
- Tipp: Beginnen Sie die Formulierung der Frage zur zentralen Herausforderung immer so:
Wie schaffen wir es, dass ...
Hundert Ideen für Stühle, damit eine fliegen kann
Mit der Ausgangsfrage „Wie schaffen wir es, einen Stuhl für Studenten zu gestalten, der mobil, schön, vor allem aber preiswert ist?“ werden jetzt ganz viele Ideen produziert.
Eine Form der Ideengenerierung kann ein sogenannter Post-it-Race sein. Dabei werden innerhalb eines festen Zeitfensters (10 bis 15 Minuten) Ideen am laufenden Band von verschiedenen Teammitgliedern auf farbige Klebezettel notiert. Nach einem vereinbarten Zeichen werden die Plätze gewechselt und man schaut sich die Ideen der Teamnachbarn an und ergänzt bzw. erweitert diese.
Rapid Prototyping: Looks like, feels like, works like
Hirnforscher sagen, dass wir Dinge dann am besten begreifen, wenn wir sie tatsächlich anfassen können. In dieser Phase mache ich anhand eines Prototypen den neuen Stuhl erlebbar. Es geht darum, möglichst viel Feedback von potenziellen Nutzern zu bekommen und die entwickelten Lösungen zu testen. Wichtig: Design Thinking zielt darauf ab, möglichst früh zu scheitern. Möglichst bevor hohe Investitionen getätigt wurden. Jedes Scheitern wird im Sinne des Design Thinking als Fortschritt des Innovationsprozesses gewertet.
- Tipp: Diese Denke ist anders und es braucht Zeit bis man sie sich zur Gewohnheit gemacht hat.
Mögliche Formen von Prototypen
- Looks like: Ich baue ein Modell des neuen Stuhls (z.B. im 3D-Druck-Verfahren).
- Feels like: Ich mache den neuen Stuhl emotional und visuell erlebbar, so wie er am Ende und nach dem aktuellen Stand des Erfahrungswissen aussehen könnte (etwa in Form eines Videos oder einer Zeichnung).
- Works like: Hier baue ich den Stuhl ebenfalls nach, nur in verschiedenen Variationen (Material, Farbe, Eigenschaften etc.)
Danach folgt eine neue Schleife des Testens und Prototypings bis der ideale Stuhl gefunden wird. Gelingt dies nicht, müsste die zentrale Herausforderung möglicherweise neu formuliert werden. Oder aber es sind neue Interviews in diesem iterativen Prozess, also dem mehrfachen Wiederholen ähnlicher Handlungen zur Annäherung an eine Lösung, erforderlich.
- Tipp: Die Frage an die Testperson(en) könnte dann lauten: Was habe ich nicht begriffen, dass das Produkt (also der Stuhl) nicht bei Dir ankommt?
Design Thinking-Prozess im Gesamtüberblick – 5 Phasen
- Verstehen: In der Phase des Verstehens steckt das Team den Problemraum ab.
- Beobachten: In der Phase des Beobachtens sehen die Teilnehmer nach außen und bauen Empathie für Nutzer und Betroffene auf.
- Sichtweise definieren: In dieser Phase geht es darum, die Sichtweise zu definieren. Es werden die gewonnenen Erkenntnisse zusammengetragen und verdichtet.
- Ideen finden: In der Phase Ideen finden entwickelt das Team zunächst eine Vielzahl von Lösungsmöglichkeiten, um sich dann zu fokussieren.
- Prototypen entwickeln: Das anschließende Prototypen dient der Entwicklung konkreter Lösungen, die an den passenden Zielgruppen getestet werden können.
Fazit: Mehr als ein Buzzword
Design Thinking ist mehr als ein Modewort. Es bringt Selbstständige und Unternehmen dazu, divers und kreativ zu arbeiten. Waren Probleme früher kompliziert, sind sie heute komplex. Design Thinking hilft, diese zu lösen und Projekte bewusst in möglichst bunten Teams mit unterschiedlichsten Fähigkeiten zu erarbeiten.
Design Thinking-Workshops und Buchtipps
Workshops
Buchtipps
- Praktiker: Dark Horse Innovation: Digital Innovation Playbook. Das unverzichtbare Arbeitsbuch für Gründer, Macher und Manager. Murmann Verlag, Hamburg
- Pflichtlektüre: Change by Design von Tim Brown und Barry Katz, HarperCollins Publishers, New York
- Wissensspeicher: Design Thinking: Innovation lernen – Ideenwelten öffnen von Hasso Plattner, Christoph Meinel und Ulrich Weinberg (MI-Wirtschaftsbuch)
- Beststeller: Business Model Generation. Ein Handbuch für Visonäre, Spielveränderer und Herausforderer von Alexander Osterwalder und Yves Pigneur (Campus Verlag)
Bild- und Videonachweis
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